
Katja Gehrmann (Illustratorin)
Tulipan Verlag
Lesealter: ab 4 Jahre
40 Seiten
Gebundenes Buch: 16,00€
Henry liegt schon im Bett, als ihm einfällt, dass er vergessen hat, die Kaninchen der Nachbarn zu füttern! Er schleicht sich aus der Wohnung, er ist ja gleich zurück. Doch als er im Hausflur steht und die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, bemerkt er, dass er die Schlüssel vergessen hat. Er kommt weder zu den Nachbarn noch zurück in sein Bett. Mist! Henry begibt sich auf die Suche nach jemandem, der ihm helfen kann, und trifft bei seinem Streifzug durch die nächtliche Stadt auf viele Menschen, die arbeiten, während alle anderen schlafen. (Klappentext)
Ein ungewöhnlicher Streifzug durchs nächtliche Leben
Mit „Kopfüber durch die Nacht“ legt Rüdiger Bertram ein Bilderbuch vor, das sich vom klassischen Einschlafbuch abhebt. Es ist weniger eine sanfte Gutenachtgeschichte mit beruhigender Atmosphäre, sondern mehr ein abenteuerlicher, manchmal fast rastloser Streifzug durch die Stadt bei Nacht. Im Mittelpunkt steht der kleine Henry, der allein mit seinem Babysitter zu Hause ist. Kurzerhand schlüpft er in den Hausflur. Von dort aus gerät er in eine Abfolge nächtlicher Begegnungen mit Erwachsenen, die alle eines gemeinsam haben: Sie arbeiten, während andere längst schlafen.
Was auf den ersten Blick wie eine charmante nächtliche Odyssee wirkt, wirft bei genauerem Hinsehen durchaus Fragen auf. Henry trifft in dieser Nacht unter anderem auf Partybesucher, Feuerwehrleute, eine Bäckerin, einen Arzt und Reinigungskräfte. Alle sind freundlich, hilfsbereit, aber letztlich zu beschäftigt, um ihm wirklich zu helfen. Bis schließlich ein Taxifahrer ihn nach Hause bringt. Dass ihm am Ende eine Einbrecherin die Tür öffnet und ihm ihren Dietrich als Erinnerung überlässt, mag augenzwinkernd gemeint sein, wirkt im Gesamtkontext aber befremdlich – zumindest aus erwachsener Sicht.
Denn so viel Situationskomik und liebevoll gezeichnete Begegnungen das Buch auch enthält, so sehr bleibt der Eindruck zurück: Diese Geschichte bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Fantasie und Realität. Henry irrt die ganze Nacht allein durch eine Stadt, ohne dass der Babysitter es bemerkt, ohne dass jemand ernsthaft beunruhigt scheint. Er steigt zu einem Fremden ins Auto, begegnet einer Einbrecherin, durchquert die Straßen barfuß und im Schlafanzug. Man kann das natürlich als fantasievolle Überzeichnung und moderne Märchenstruktur deuten, wenn man mag.
Was das Buch dennoch interessant macht, ist die subtile Art, mit der es Kindern zeigt, dass auch nachts Leben pulsiert – und dass viele Menschen arbeiten, damit der Alltag anderer reibungslos läuft. Diese Idee ist nicht neu, wird hier aber mit einem ungewöhnlich erzählten Plot und durch Katja Gehrmanns Illustrationen atmosphärisch stark eingefangen. Die nächtlichen Szenen sind lebendig und detailreich, die Figuren wirken durch kleine Gesten und Mimik authentisch. Besonders gelungen ist die Darstellung von Henrys Gefühlswelt: seine Neugier, sein Frust, sein Durchhaltewille – all das zeigt sich nicht nur im Text, sondern auch in den Bildern.
Trotzdem bleibt bei mir ein ambivalentes Gefühl zurück. Ist diese Geschichte wirklich für Kinder ab vier Jahren geeignet? Oder wird hier eine ironische Perspektive eingenommen, die eher Erwachsene schmunzeln lässt? Die Geschichte lässt sich schwer einordnen. Sie ist kein klassisches Vorlesebuch zum Einschlafen, dafür ist sie zu unruhig, zu überfrachtet mit Eindrücken. Gleichzeitig fehlt ihr die Stringenz einer klaren Fantasiegeschichte, die sich eindeutig von der Realität abhebt.
Fazit: „Kopfüber durch die Nacht“ ist originell, ungewöhnlich und regt zum Nachdenken an. Ein spannender, aber nicht ganz unproblematischer Buchtitel, der sicher nicht jeden Geschmack trifft und sich besser für eine gemeinsame, begleitete Lektüre eignet als für das ruhige Einschlafritual. Kein schlechtes Buch – aber eben eines, das man nicht einfach „weglesen“ kann.
Vielen lieben Dank an Tulipan, die uns dieses interessante Buch als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben.